Einen Meter unter dem Meer

von Ricarda Richter und Hannes Schrader

Im Politikteil der ZEIT erscheint gelegentlich ein poli­tischer Fragebogen. Menschen wie Robert Habeck, Alice Schwarzer oder Campino beantworten dort Fra­gen wie: Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, mächtig zu sein? Oder: Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen? Frage eins lautet: Welches Tier ist das po­litischste? Antworten reichen von der Ameise, über den Fuchs bis zum Elefanten.

Doch wer eine Woche auf der Insel Pellworm ver­bracht hat, weiß: Das politischste Tier ist die Gans.

Als wir, die 18 Schülerinnen und Schüler des 39. Lehrgangs der Henri­-Nannen­-Schule, über ein Abschluss­projekt nachdachten, hatten wir eines der größten Themen unserer Zeit im Auge: die Klimakrise. Und wir suchten nach einem Ort in Deutschland, den sie be­ sonders hart und früh treffen wird. So kamen wir auf Pellworm. Eine Woche lang wollten wir hier auf der Insel im Juli recherchieren, wie sich die Klimakrise jetzt schon zeigt, wie sie die Insel bedroht, und wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner für sie rüsten.

Mitte Juli kamen wir mit der Fähre an, liehen Fahrräder bei Momme von Holdt, bekamen eine Inselfüh­rung von Doris Ehlers, wateten durchs Watt und bezogen unsere Unterkunft. Wir radelten zu Recher­chen, sprachen mit den örtlichen Bauern, der Bürger­meisterin und merkten schnell zwei Dinge. Erstens: Alle kennen sich hier. Und zweitens: Die Klimakrise spielt keine viel größere Rolle als in anderen Teilen Deutschlands – sie ist eine relativ abstrakte Bedro­hung. Niemand steht morgens besorgt auf dem Deich und plant, Pellworm zu verlassen. Das viel größere Problem: Die Gans, die die Felder der Bauern leer frisst und die aus Naturschutzgründen nicht geschos­sen werden darf. Wir erfuhren, dass die ansässigen Bauern deshalb so viel Mais anbauen wie noch nie zuvor – und dass dieser Maisanbau durchaus umstrit­ten ist, weil er die ökologische Vielfalt der Insel beein­flusst, wenn nicht bedroht. Und wir lernten, dass all das auch mit der Klimakrise zusammenhängt: denn die Gänse bleiben immer länger auf der Insel, weil die Winter immer milder werden.

Bei unseren Recherchen saßen wir mit den Pellwor­merinnen und Pellwormern auf ihren Terrassen bei Kaffee und Keksen. Und während im Hintergrund der Mähroboter den Rasen kurz und schier hielt, hörten wir Gerüchte über Mauscheleien und Unmut über parteipolitische Gräben. Von Wohnungsnot und einem Maurer, der in einem Wohnwagen leben musste, weil er keine Bleibe fand. Von steigenden Hauspreisen, die junge Pellwormerinnen und Pellwor mer nicht mehr bezahlen können. „Der Ausverkauf der Insel wird täglich schlimmer“, sagte uns einer, der hier aufgewachsen ist. Kurz: Wir erfuhren, dass es brodelt in der grünen Idylle.

Die gesamte Inselgemeinschaft beschäftigt die Frage, wie es weitergehen soll mit ihr: Will man mehr hochpreisigen Tourismus? Oder soll Pellworm eine Öko­ insel werden, auf der man Pellwormer Bio­Rind im Supermarkt kaufen kann? Die Zukunft ist umstritten, aber sie ist niemandem egal. Auch uns gegenüber hielten sich die Pellwormerinnen und Pellwormer mit ihren Meinungen nicht zurück. Sie öffneten uns ihre Türen, trafen uns auf dem Deich oder stiegen mit uns auf ein Windrad, gingen für uns ins Wasser und zeigten uns mitten in der Nacht den Sternenhimmel.

Sie nahmen uns auf, verrieten uns, wo die besten Ge­schichten schlummerten und wen wir unbedingt tref­fen sollten, um sie zu recherchieren.Und ganz nebenbei schaffte es die Insel, uns von sich zu begeistern. Wir genossen die Weite des Himmels und den Wind um die Nase, lernten Krabben pulen bei Büttis, Krabbensuppe kochen bei Sinje Lucht und sahen nachts beim Baden in der Nordsee das Mee­resleuchten. Am Ende wären wir am liebsten geblieben, um jede Woche von Pellworm zu berichten. Leider mussten wir wieder fahren.

Zurück in Hamburg schrieben, schnitten und produ­zierten wir eine Woche lang unsere Projektseite. In der ZEIT erschien in der Ausgabe vom 8. Oktober eine Sonderseite über die Insel, bei ZEIT ONLINE veröffent­lichten wir ebenfalls mehrere Stücke.

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